„Wie die Bahn Milliarden in den Sand setzt“ – Gastbeitrag von Winne Hermann im Handelsblatt
Autor: admin | Kategorie: Bahn, Interviews, Stuttgart 21Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm stehen für ein falsches Bahnkonzept
Zur Erinnerung:
Es war in den frühen Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die neue DB unter Führung von Heinz Dürr der Politik im Bund, im Ländle und in Stuttgart einen scheinbar genialen Vorschlag zum Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs machte: Wir ersetzen den veralteten Kopfbahnhof und einen Rangierbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof, legen alle Gleise in Stuttgart unter die Erde und gewinnen damit mitten in der Stadt ein großes Areal zur Bebauung für Büros, Kaufhäuser und Wohnungen und für die Erweiterung des Schlossparks. Der Verkauf der teuren Immobilien („Filet-Grundstücke“) in der „Wachstumsmetropole Stuttgart“ zusammen mit den erwarteten Mehrerlösen durch weniger Kosten und mehr Fahrgäste würden das Ganze nahezu von selbst finanzieren, mit geringen Zuschüssen und Beteiligungen durch den Bund, das Land, die Stadt und die Region, die aber ohnehin bei der Modernisierung des Kopfbahnhofes fällig würden. Die Züge könnten sehr viel schneller („5 Minuten“) durch Stuttgart durchkommen und zusammen mit der Neubaustrecke nach Ulm könne man weiter viel Zeit („eine halbe Stunde“) sparen und Stuttgart ins zukünftige deutsche bzw. europäische Hochgeschwindigkeitsnetz perfekt einbinden. Stuttgart 21 sollte das Vorreiter- und Zukunftsprojekt der Deutschen Bahn für eine ganze Reihe sogenannter 21-er Projekte werden: die Lufthansa auf der Schiene. Andere Kopfbahnhöfe wie Frankfurt und München sollten danach ebenfalls in unterirdische Durchgangstationen verwandelt werden. 2008 sollte der neue Bahnhof samt Neubaustrecke eingeweiht werden.
Es kam anders. Und seitdem hat sich viel verändert. Viele Begründungen von einst sind heute überholt („Beseitigung eines Engpasses“) oder lächerlich (Züge könnten nicht wenden). Während man in München und Frankfurt überprüft und nachgerechnet und die unterirdische Durchgangsstation als Ersatz für den Kopfbahnhof wegen hoher Kosten und verkehrlicher Nachteile abgelehnt hat, verfolgten die in Stuttgart regierenden schwarzen Politiker mit einer irrationalen Fortschritts-Gläubigkeit ihr Ziel und erklärten dieses Projekt zu ihrem Zukunfts-/Visionskonzept für die Stadt und das ganze Land. Alle Einwände von Bahnexperten, Umweltverbänden, den Grünen, Architekten und Stadtplanern wurden ignoriert, ein Bürgerentscheid wurde mit formalen Mitteln verhindert. Die Bevölkerung konnte nie überzeugt werden. Immer mehr Nachtteile und Risiken werden offensichtlich.
Die wichtigsten Gründe gegen Stuttgart 21 und die Neubaustrecke (S21 macht die Neubaustrecke zwingend nötig.) sind:
Das falsche Gesamtkonzept für Stuttgart
Nicht der unterirdische Bahnhof als architektonisches Projekt ist das Problem, sondern das Gesamtkonzept, die komplette Untertunnelung Stuttgarts mit Durchgangsbahnhof, eine fehl geplante Neubaustrecke sowie die Ausrichtung der Schieneninfrastruktur auf den Hochgeschwindigkeits-Personenverkehr sind der grundlegend falsche Ansatz. Der Stuttgarter Bahnhof wird heute zu 90 Prozent für Regional- und Nahverkehrskunden und zum Umsteigen in den Fernverkehr genutzt. Nur wer schnell unter Stuttgart durchfahren will hat mit S 21 Vorteile. Für den Regional- und Nahverkehr bringt der neue Bahnhof auf einigen, wenig genutzten Relationen Vorteile, die man aber auch ohne ihn realisieren könnte. Einige Verbindungen verschlechtern sich gar. Es ist wirtschaftlich und verkehrspolitisch absurd, für 10 % der Kundschaft Milliarden zu verschwenden, die man dringend zur Verbesserung des Nah- und Regionalverkehrs sowie des Güterverkehrs bräuchte.
Der integrale Taktfahrplan wird zerschlagen und ein Engpass gebaut
Ein funktionierender Kopfbahnhof, der einen gut funktionierenden Taktfahrplan (Abstimmung aller Zugabfahrten auf einander, passend zum Umsteigen) ermöglicht, der mit 16 plus 1 Gleis eine hohe Leistungsfähigkeit und Puffermöglichkeiten für Zugverspätungen hat, wird zerschlagen. Der unterirdische Durchgangsahnhof mit nur 8 Bahnsteigen (ursprünglich waren mal 10 geplant) lässt einen kundenfreundlichen integralen Taktfahrplan nicht mehr zu. Denn die Züge müssen die knappen Trassen schnell räumen, auch wenn der Anschlusszug noch nicht gekommen ist. Die unterirdischen Zufahrten sind übrigens nicht achtgleisig, sondern pro Fahrtrichtung (N, S, O) zweigleisig. Damit wird mit großem Kostenaufwand ein Bahnhof neu gebaut, dessen Kapazität geringer ist als vorher und sogar geringer als die des Vorstadtbahnhofs in Stuttgart Bad Cannstatt. Durchgangsbahnhöfe in Großstädten haben mindestens 10 und mehr Gleise, wobei selbst diese Engpässe im System (Beispiel Köln mit 12 Gleisen) sind. Kommt es nur in einer der vielen Tunnelröhren zu Problemen, stockt gleich das ganz System mit Auswirkungen weit über Stuttgart hinaus. Unfälle und Katastrophen sind nur schwer beherrschbar.
Hohe Bau- und Kosten- und ökologische Risiken
Über 33 Kilometer Tunnelstrecken sollen unter Stuttgart in einem der größten Mineralwasservorkommen in Europa gebaut werden. Das ökologische Risiko dieses Röhrensystems ist nur schwer kalkulierbar. Das macht die Anlage nicht nur ökologisch riskant, sondern auch finanziell. Das Gleiche gilt für die über 30 Kilometer langen Tunnel zwischen Stuttgart und Ulm. Hier muss in schwierigstem Gestein (Anhydrit) gebohrt werden. Man hat in Baden-Württemberg Erfahrungen mit diesem Gestein, das aufquillt und Wasser saugt (deshalb auch Quellgips genannt) und sich ständig verändert, wenn es angebohrt wird. Ein Autobahnabschnitt auf der A 81 muss ständig saniert werden, ein Autobahntunnel bei Leonberg wurde schon doppelt so teuer wie geplant.
Wirtschaftlichkeitsrechnung geheim – Nutzen-Kostenverhältnis miserabel
Das Doppelprojekt S 21 und die NBS Stuttgart-Ulm wird nach Einschätzung vieler Experten mindestens 10, eher 12 plus x Milliarden kosten. Dem steht ein fragwürdiger Nutzen für den Hochgeschwindigkeits-Personen-Verkehr gegenüber, für den die Fahrzeit nach München um eine halbe Stunde verbessert werden soll. Die NBS ist an einigen Stellen steiler als die bisherige Strecke über die Geislinger Steige (Albaufstieg), so dass keine normalen Güterzüge dort fahren können. Zugelassen wären nur leichte Güterzüge unter 1000 Tonnen, die es faktisch auf solchen Langstrecken nicht gibt. Eine zentrale Begründung für die Notwendigkeit der NBS war übrigens die Schaffung einer weniger steilen Albüberführung. Die geplante Streckenführung würde die Alb an ihrer höchsten Stelle überqueren. Der Nah- und Regionalverkehr hat kaum Vorteile, eher Nachteile. Die Wirtschaftlichkeitsrechnung wurde nie offen gelegt, vermutlich weil die Zahlen katastrophal ausgefallen sind. Dem Bundestag wurden die Zahlen verweigert mit der Begründung, es handele sich um ein Projekt der DB AG und die Zahlen seien deren Betriebsgeheimnis. Angesichts der nahezu kompletten Finanzierung mit Steuermitteln ein demokratischer Skandal.
Das Projekt ist nicht wirtschaftlich, sondern politisch – es wurde erkauft
Als Bund und Bahn Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des Projektes äußerten und von der Realisierung vorsichtig Abstand nehmen wollten, hat die Stadt Stuttgart der Bahn das Gelände abgekauft, über das sie erst viele Jahre später verfügen kann (ein Geschäft, was kein Privatmann je tätigen würde.) Das Land hat mit der schwankenden DB einen Nahverkehrsvertrag ohne Ausschreibung abgeschlossen, der der Bahn rund ein Drittel mehr bezahlt, als im Wettbewerb andere Länder für eine solche Leistung bezahlen müssen. Der neue Bahnhof am Flughafen muss komplett von der Flughafengesellschaft finanziert werden, die im Eigentum von Stadt und Land ist. Als das alles nicht ausgereicht hatte, hat sich das Land bereit erklärt, für den Bahnhof und die Neubaustrecke rund zwei Milliarden beizusteuern. Danach schien die „Wirtschaftlichkeit“ für Bund und Bahn gegeben. Dumm nur, dass aufgrund der hohen Kosten der Bund trotz allem viel zu viel zahlen muss. Letztlich wurde das Doppelprojekt, das für den Schienenverkehr in Deutschland wenig bringt und eher eine Fehlinvestition ist, von den Granden der CDU in Berlin erzwungen.
Das Projekt kannibalisiert sinnvolle andere Ausbaumaßnahmen
Die extrem hohen Kosten der beiden Projekte führen dazu, dass der klamme Bund nicht bzw. zu wenig Mittel hat für wirklich wichtige und nützliche Ausbau- und Erweiterungsprojekte. Dazu zählen vor allem die Schienengüterverkehrsprojekte im Rheintal und der gesamte Hafenanbindungsverkehr. Nach Einschätzung einer UBA-Untersuchung könnte man mit rund 11 Milliarden (also etwa soviel wie die beiden Projekte) den Schienengüterverkehr so ausbauen, dass er doppelt soviel wie heute transportieren könnte. Was aus wirtschaftlichen und ökologischen Gründen absolut sinnvoll wäre.
Nachteile für die Bahnkunden/innen
Der Umsteigefreundliche und barrierefreie Kopfbahnhof wird ersetzt durch einen U-Bahnhof mit engen Rolltreppen und Bahnsteigen, die zudem auf 400 Metern schräg ansteigen. Wer die Situation in Köln oder Hamburg kennt, weiß wie eng, stressig und schwierig die Umstiege in solchen Bahnhöfen sind. Dagegen sind Kopfbahnhöfe, siehe auch Leipzig, Zürich, Frankfurt, sehr viel bequemer nutzbar.
Nutzen für die Stadt?
Größter Nutznießer sei die Stadt, so heißt es. Sie würde in ihrer Mitte gewissermaßen die Fläche einer zweiten City bekommen. Das Argument übersieht vollkommen, dass Stuttgart, wie jede andere deutsche Großstadt, keine zweite City braucht, weil die Bevölkerung nicht wächst und die Einkaufskapazitäten sich nicht verdoppeln. Auch in Stuttgart gibt es seit Jahren Leerstände und die seit über 10 Jahren verfügbare ehemalige Güterbahnhofsfläche wurde nur teilweise bebaut, mit Landeszentralbankgebäuden, in denen die schwarze Politik das Sagen hat und mit einer städtischen Bibliothek. Private Investoren bleiben aus, was zeigt, dass der Bedarf („Filet-Grundstücke“) eine Wachstumsillusion der Neunzigerjahre war.
K 21 – Die Modernisierung des Kopfbahnhofes ist nicht nur billiger, sondern auch besser für den Schienenverkehr als Stuttgart 21
Die Kritiker des Projektes haben von Anfang an auf die Modernisierung des Kopfbahnhofes gesetzt, die zweifellos nötig und sinnvoll ist. Dazu gehören die Erneuerung Bahnhofsgebäudes, des Gleisfeldes und der zahlreichen in die Jahre gekommener Überführungs- und Unterführungsbauwerke, aber auch die Verbesserung der Zufahrtskapazitäten und der Ausbau des S-Bahnsystems mit Anschluss zum Flughafen. Auch die Anbindung an eine verbesserte Neubaustrecke nach Ulm ist mitbedacht. Die Hauptvorteile dieses Alternativkonzeptes sind: Vorteile für den Nah- und Regionalverkehr, deutlich geringere Kosten (maximal die Hälfte) und weniger Risiken. Das Alternativkonzept ist modular angelegt und kann je nach Bedarf und Finanzsituation schrittweise realisiert werden. Im Unterschied zu S 21 können beide Projekte unabhängig von einander gebaut werden, während S 21 nur mit einer Neubaustrecke funktioniert.
Winfried Hermann, MdB,
Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Bundestages