„Es braucht Friedensgespräche“

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>> Dazu auch der Artikel: Der Grüne, der den Pazifismus nicht aufgeben will in der Süddeutschen Zeitung (05.09.2024)

 

>> Interview in der taz mit Benno Stieber, 09.09.2024

 

Herr Hermann, seit Beginn des Ukrainekriegs haben Sie immer wieder kritische Anmerkungen zur Militarisierung der Politik gemacht. Jetzt haben Sie einen überparteilichen Aufruf gestartet, der bewusst auf Abstand mit anderen Parteien bleibt. Sind Sie heute der letzte Pazifist in Ihrer Partei?

Das glaube ich nicht. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde ich immer wieder von grün-nahen Friedensbewegten angesprochen, warum sich kein Grüner von Rang und Namen zur Eskalationsgefahr von Waffenlieferungen äußert oder wenigstens darüber diskutiert. Von Leuten, die definitiv keine Grünen, sondern konservativer sind, habe ich sehr positive Rückmeldungen bekommen. Sie teilten meine Sorge um Eskalation. Aus meiner Partei habe ich dagegen nach meiner ersten Wortmeldung in der Zeitung Kontext ziemlich Gegenwind bekommen. Nach unserer Veranstaltung im Juli haben wir übrigens bundesweit viele positive Rückmeldungen bekommen.

Winfried Kretschmann, in dessen Kabinett Sie als Verkehrsminister sitzen, ist zum Beispiel ganz anderer Meinung. Er sagt, mit Pazifismus könne man keinen Staat machen, das könne immer nur eine individuelle Einstellung sein. Hat er Recht?

Ja, das ist zuerst eine individuelle Haltung. Und doch gibt es unabhängige Staaten, die friedensorientierte Politik machen oder beispielsweise die Schweiz, die auf Neutralität setzt und seit Jahrhunderten keinen Krieg geführt hat. Trotzdem sehe ich ein, dass die Haltung eines Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht per se pazifistisch sein kann – das könnte er nur für sich persönlich sein. Dennoch kann man auch in dieser Funktion eine andere Politik machen, die mehr auf Verhandlungen und Diplomatie setzt und nicht vor allem auf Waffen. Wenn man sagt, ein Aggressor versteht nur eine militärische Antwort, ist man in einer militärischen Logik gefangen. Das widerspricht dem Friedensgebot im Grundgesetz, nämlich zu versuchen, Frieden zu machen. Nichts Anderes heißt Pazifismus. Das wäre eine wertebasierte Außenpolitik.

Kennen Sie einen Weg, wie der Konflikt friedlich beendet werden kann, den die Bundesregierung nicht kennt?

Ich will nicht als Besserwisser auftreten, ich habe ja viel weniger Informationen als die Außenpolitikerinnen und -politiker in der Regierung und im Bundestag. Meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich wollen dazu beitragen, dass in dieser Republik wieder vernünftig und rational über Krieg und Frieden, Militär und Wege zum Frieden diskutiert wird. Wir wollen einen Beitrag zum Strategiewechsel leisten, damit die Remilitarisierung von Politik und Gesellschaft nicht weiter fortschreitet. Wir dürfen mehr Diplomatie wagen.

Sie haben sich mit Veteranen der Friedensbewegung zusammengetan. Verlangt nicht eine veränderte Gesamtsituation auch neue Antworten, als die, die vielleicht im und nach dem Kalten Krieg gegolten haben?

Natürlich, alles andere wäre ja borniert. Es ist jedoch nicht angemessen, dass man alle Einsichten und Errungenschaften, die man damals gewonnen hatte, heute für naiv und falsch erklärt. Es gibt erstaunliche Parallelen: Die Friedensbewegung galt als naiv, sie wollte den Rüstungswettlauf stoppen, in Sorge um einen womöglich atomaren Krieg. Auch damals hat die Nato ihre Aufrüstung mit Cruise Missiles mit einer „Raketenlücke“ begründet. Anders als heute gab es große öffentliche Debatten, Demonstrationen und Diskussionen im Bundestag – und am Ende eine Friedensbewegung. Die Stationierung neuer amerikanischer Raketen wird heute fast kritiklos hingenommen, als Tagesschau-Meldung.

Sind Sie gegen die Raketen?

Ja. Es muss auch andere Lösungswege geben. Ich bin kein Putinversteher, kann aber nachvollziehen, dass Raketen, die auf Russland gerichtet sind, dort als Bedrohung wahrgenommen oder so gedeutet werden. Wer Friedenspolitik macht, muss versuchen, die andere Seite und deren Interessen zu verstehen, nicht rechtfertigen.

Vielleicht heißt Putin verstehen ja, zu begreifen, dass er nur Stärke versteht.

Das ist ja zunächst eine Behauptung, die nicht immer stimmen muss. So denken übrigens alle Konfliktparteien.

Was lässt Sie daran zweifeln?

Der Beleg des Erfolgs militärischer Mittel steht nach zweieinhalb Jahren noch aus: Die Aufrüstungslogik hat den Krieg bisher leider nicht beendet, im Gegenteil. Wenn man den blutigen, für beide Seiten nicht erfolgreichen Stellungskrieg sieht, muss man doch die Strategie reflektieren. So richtig das klare Urteil ist, dass Putin einen brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, bringt diese Überzeugung auf dem Schlachtfeld nichts. Aber versetzen wir uns mal in die andere Seite, wie diese den Westen und die Nato wahrgenommen hat: Während wir im Kalten Krieg den Weltfrieden durch den Warschauer Pakt und den Kommunismus gefährdet gesehen haben, galt das auf der Gegenseite für die Nato und den Kapitalismus. In der Sowjetunion hat man die USA in Vietnam und anderswo Kriege führen sehen. Die USA haben in Südamerika Diktaturen unterstützt und geholfen, demokratische Regierungen zu stürzen. Die Sowjetunion und später Russland hat die Gegenseite oft militärisch unterstützt und hat zur Wahrung der eigenen Interessen auch Kriege geführt, beispielsweise in Afghanistan oder in Tschetschenien. Nach dem Kalten Krieg gab es aber auch Annäherungsansätze. Allerdings endete die Nato nicht, wie in Aussicht gestellt, an der polnischen Grenze. Und in der Folgezeit sind die Rüstungskontrollverträge von beiden Seiten unterlaufen und nicht verlängert worden. Jede Seite warf der anderen vor, die Verträge gebrochen zu haben.
Ich will mit Fehlern des Westens keinesfalls den Angriffskrieg Russlands rechtfertigen. Aber es ist fatal, dass die Abrüstungs- und Friedenspolitik in den 2000er Jahren nicht weiterverfolgt wurde. Stattdessen wurde aufgerüstet. Die USA geben heute sogar ein Vielfaches für Militär aus wie Russland.

Man hat sich seit 2014, dem Einmarsch Putins in der Ostukraine, mit der Kriegsbereitschaft Russlands schon mal geirrt. Würden Sie Polen und den Balten wirklich guten Gewissens sagen, sie müssen sich keine Sorge machen?

Nein. Auch als Pazifist bin ich überzeugt, dass es gerechtfertigt ist, dass sich die Ukraine verteidigt. Ebenso ist es richtig, dass die baltischen Staaten Vorkehrungen zur Verteidigung treffen. Ich glaube sogar, dass es trotz aller Kritik an Nato und den USA wichtig ist, dass diese Länder in der Nato sind. Ich verstehe, dass Finnland und Schweden beigetreten sind. Aber das hat einen Effekt: Rund um Russland gibt es nur noch die Nato. Ein Militärbündnis kann Friedenspolitik nicht ersetzen.

Sie vergleichen die US-Außenpolitik immer wieder mit der Russlands. Kann man das wirklich gegeneinander aufwiegen?

Nein. Die USA sind grundsätzlich ein demokratischer Staat, das ist der Unterschied. Anders als die Sowjetunion und Russland. In der Art, außenpolitisch die eigenen Interessen durchzusetzen, gibt es in der Geschichte Ähnlichkeiten. Ein großer Vorteil ist, dass man auch in den USA und anderen westlichen Demokratien solche kritischen Themen diskutieren kann, ohne umgebracht zu werden. Da wollen wir mal keine Unschärfen aufkommen lassen. Man sollte deshalb aber nicht diesem schlichten Bild folgen, die einen sind böse und die anderen sind gut.

Sie sagen auch, dass man Putin mit dem russischen Volk nicht gleichsetzen darf. Haben Sie mal versucht, Kontakt mit diesem anderen Russland aufzunehmen?

Nein, dazu sind wir wirklich zu klein. Aber ich bin der Meinung, dass es fatal ist, dass wir seit dem Krieg alle zivilgesellschaftlichen Kontakte, Städtepartnerschaften und Forschungsgemeinschaften aufkündigen und boykottieren. Wie soll dann noch die andere Sicht der Dinge nach Russland gelangen? Aber auch die einfachen Soldaten, die gezwungen oder von Ideologie verblendet auf russischer Seite im Krieg fallen, können uns doch nicht egal sein.

Die Frage ist doch, warum es den Russen egal ist.

Den Ehefrauen und Kindern ist das nicht egal. Man muss wissen: Das Trauma des 2. Weltkrieges, der brutale Überfall durch die Deutschen ist im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung noch sehr präsent. Dazu gehört auch, dass man zur Verteidigung des Vaterlandes auch bereit zum Sterben sein muss. Das nutzt Putin in seiner Propaganda.

Müssten die Friedensverhandlungen nicht von der Ukraine ausgehen?

Die politische Führung der Ukraine sieht offenbar keinen anderen Weg, als das Land militärisch zu verteidigen und Russland militärisch zu besiegen. Verhandlungen gelten als Kapitulation. Ob diese Position in der Bevölkerung noch lange mitgetragen wird, weißen ich nicht. Als Pazifist habe ich eine andere Sicht. Es braucht die Bereitschaft für eine Verhandlungslösung. Von beiden Seiten! Ich persönlich würde unsere Demokratie mit allen zivilen Mitteln verteidigen. Aber ich wäre nicht für den Kampf um zerstörtes Territorium – und sei es ein Stück unseres Landes – zu sterben.

Für Demokratie und Freiheit, so wie dafür viele im 2. Weltkrieg gestorben sind?

Der militärische Kampf der Alliierten im 2. Weltkrieg zur Beendigung der Nazi-Gräuel und des Krieges, das ist das Standard-Argument, mit dem wir Pazifisten immer konfrontiert werden.

Ist das falsch?

Dieser historische Vergleich hinkt meistens, aber grundsätzlich gilt: Wenn alle politischen Mittel zum Frieden verpasst werden, wenn Gewalt und Krieg im vollen Gang sind, wenn schon viele tot sind und alles zerstört ist, dann ist ein gewaltfreier Ausweg schwierig.

Aber Sie melden sich ja nun jetzt mitten im Krieg zu Wort.

Aber nicht im 2. Weltkrieg. Der Pazifist will alles dafür tun, dass es gar nicht zum Krieg kommt. Deshalb war es einer der Fehler, dass man nach dem Kalten Krieg nicht konsequent eine neue Friedensordnung geschaffen hat. Und stattdessen weiter auf Abschreckung durch Militär gesetzt hat.

Was wäre dann jetzt zu tun?

Zuerst müssen die Realitäten und Konsequenzen des militärischen Ansatzes und möglicher Perspektiven kritisch analysiert und alternative, diplomatische Wege eruiert werden. Es braucht neutrale Moderatoren, Verhandlerinnen oder Verhandler, die zunächst einen Waffenstillstand beziehungsweise Bedingungen dazu vorschlagen, ohne damit Russlands Geländegewinne anzuerkennen. Die derzeitige Kriegsgrenze und ein Waffenstillstand müssten zunächst mit einem Uno-Blauhelm-Mandat gesichert werden.

Da müsste Russland zustimmen.

Ja, aber auch Ukraine und die USA. Es braucht Initiativen zu Verhandlungen.

Um den Krieg abzukürzen, würde Ihr Parteifreund Anton Hofreiter gern möglichst viele Waffen liefern, und so der Ukraine zum Sieg verhelfen.

Immer mehr Waffen haben bisher nicht zum Erfolg, sondern zur Aufrüstung der anderen Seite und zu mehr Gewalt geführt. Es besteht das Risiko auch einer atomaren Eskalation. Es braucht mehr Gespräche, Friedensgespräche! Aus meiner Sicht könnten die UN und die BRICS-Staaten vermitteln. Deutschland ist dafür nicht geeignet.

Kritisieren Sie, dass wir bis jetzt noch auf der Seite der Ukraine stehen?

Nein, aber zur Vermittlung braucht es neutrale Akteure.

Sie kritisieren, dass der Verteidigungsminister davon redet, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden muss. Ist das mehr als eine Zuspitzung?

Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass im Grundgesetz die Friedenspflicht steht. Deutschland muss maximal verteidigungsfähig werden, das ja, aber nicht kriegstüchtig! Am Beispiel dieser Sprache und der parteilichen Berichterstattung vieler Medien sieht man, wie sich in Deutschland das politische Klima zunehmend militarisiert.

In Ihrem Aufruf heißt es, man müsse in einer Demokratie diese Positionen vertreten dürfen. Das hörte man auch auf Querdenkerdemonstrationen. Wer hindert Sie daran?

Naja, mit denen haben wir nichts gemein. Als ich mich vor eineinhalb Jahren das erste Mal öffentlich kritisch geäußert habe, bin ich auch von Parteifreunden heftig kritisiert worden. Obwohl ich damals schon gesagt habe, dass Putin ein Imperialist ist, der Krieg gegen das Völkerrecht verstößt, galt ich als Putinversteher und als einer, der die eigene Verteidigungsfähigkeit schwächt. So wird man in eine blinde Solidarität reingeredet, die ich für gefährlich halte. Wenn man sagt, man verteidigt mit diesem Krieg unsere westliche Demokratie, dann gehört dazu aber auch, dass man demokratisch kontrovers über Verteidigungspolitik und den Weg zum Frieden diskutiert.

Deshalb führen wir dieses Interview.

Als Rolf Mützenich im Bundestag ganz vorsichtig davon geredet hat, ob man den Konflikt nicht auch einfrieren könnte, ein Terminus aus der Friedensforschung, wurde kollektiv auf ihn eingeprügelt. Auch von obergescheiten Journalistinnen und Journalisten. Da frag ich mich schon, was ist in zwei Jahren aus unserer einst so diskussionsfreudigen und militärkritischen Republik geworden?

Wie sehr haben Sie sich in dieser Debatte von Ihrer Partei entfremdet?

Nicht so sehr von der Partei. Seit dem Parteitag in Rostock 2001, wo Joschka Fischer den Farbbeutel ans Ohr bekommen hat und die Partei mit großer Mehrheit für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan gestimmt hat, weiß ich, dass ich in der Minderheit bin. Es ist auch trotz aller Kritik nicht mein Interesse, die Grünen zu spalten – unsere Initiative ist überparteilich.

Was wollen Sie dann?

Ich will, dass wir rational über Wege zum Frieden diskutieren, die Annahmen der militärischen Logik hinterfragen und Alternativen zur militärischen Eskalation entwickeln. Es ist Zeit für einen Strategiewechsel. Wollen wir uns wirklich von Putin in eine militärische Logik des 19. Jahrhunderts zwängen lassen, obwohl wir wissen, dass uns das auf lange Sicht davon abhält, die grundlegenden sozialen und ökologischen Probleme auf diesem Planeten zu lösen?

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3 Kommentare

  1. Hallo,

    Ich bin Jahrgang 1960, Politologe, seit 48 Jahren in der SPD und Mitglied des AK Frieden der Kölner SPD. Ein gutes Interview, ich würde mir mehr davon in deutschen Medien wünschen. Leider fallen mir keine Kölner Grünen auf, die ähnlich wie Sie denken!?

    Beste Grüße
    Fritz Schröder-Senker

  2. Danke für die pazifistische, überparteiliche Initiative. Diese friedenspoltische Haltung mag zurzeit bei den GRÜNEN auf Bundesebene keine Mehrheit haben, aber sie gehört zur DNA dieser Partei, der ich als Mitglied angehöre und für die ich in der Kommunalpolitik aktiv bin. Es wäre wichtig, dass unterschiedliche Strategien und Wege zum Frieden wieder breit diskutiert werden – in der Gesellschaft, im Bundestag und auch in der GRÜNEN-Partei.
    Sigrid Thierolf