Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann ist ein Verfechter der Regionalstadtbahn und der Innenstadtstrecke. Auch zu anderen Verkehrsthemen äußerte er sich.
Herr Hermann, Ihr Pressesprecher sagte, die Regional-Stadtbahn sei eine Herzensangelegenheit von Ihnen. Warum ist sie das?
Es gibt einen naheliegenden Grund: Ich stamme ja aus der Region und war immerhin 13 Jahre lang Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Tübingen. Schon 1998, bei meiner ersten Wahlkampagne zur Bundestagswahl habe ich gesagt: Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Regional-Stadtbahn kommt. Das war vor über 20 Jahren. Ich habe dann später, als ich im Bundestag Ausschussvorsitzender war, gesagt, damit wir vorankommen, muss das ganze Projekt in Teile zerlegt werden. Zum Beispiel Modul 1. Also endlich mit Dingen anfangen, die schneller gehen, die einen hohen Nutzen und keine so hohen Investitionen haben. Insofern fühle ich mich auch mit als Pate für das Modul 1.
Das zweite Motiv: Als Verkehrsminister habe ich natürlich ein großes Interesse daran, dass alle Ballungsräume ein besseres Schienen-Personennahverkehrs-Angebot bekommen. Sonst können wir unsere Klimaschutzziele nicht erreichen.
In anderen Ballungsräumen ist das längst geschehen.
Ja, ich hab auch mal gesagt, der Raum Reutlingen/Tübingen hängt 20 Jahre hinterher. In diesem Jahr geht das letzte Stück der Breisgau-S-Bahn in Betrieb. Die heißt zwar S-Bahn, aber die Funktion dieser Breisgau-S-Bahn ist gut vergleichbar, auch in der Größenordnung, mit der Regional-Stadtbahn Tübingen/Reutlingen. Es gibt ein klares Zentrum, und es gibt weit entfernte Ortschaften, aus denen die Pendler kommen. Oder umgekehrt, wo man rausfährt, wenn man in die Natur will.
Wir haben jetzt die Breisgau-S-Bahn, wir haben in der Region Karlsruhe seit vielen Jahren die Regional-Stadtbahn, wir haben im Raum Mannheim und Heidelberg die S-Bahn und ein Stadtbahnsystem, wir haben in der Stadt und der Region Heilbronn ein Stadtbahn-System, das mit dem Karlsruher verknüpft ist und bis ins Hohenlohische reicht. Und dann haben wir in Ulm –vergleichbar mit der Stadt- und Uni-Erschließungs-Strecke in Tübingen – die auch mal hochumstrittene Stadtbahn. Nach einem zweiten Bürgerentscheid erschließt diese Bahn vom Bahnhof aus jetzt die neuen Gebiete und vor allem die Universität und die Forschungseinrichtungen auf dem Berg. Und seit geraumer Zeit wird mit Bayern verabredet, eine Donau-Iller-S-Bahn entwickelt. Die Planung läuft schon ein paar Jahre, aber jetzt kommen die ersten Schritte zur Realisierung.
Der einzige Ballungsraum vergleichbarer Größe mit dem Doppelzentrum Tübingen-Reutlingen – mit zusammen mehr als 200 000 Einwohnern – hat noch keine gute Schienen-Verkehrsverbindung ins Umland. Es gibt nur alte Eisenbahnstrecken, die teilweise noch nicht mal elektrifiziert sind und die jetzt in Modul 1 wenigstens elektrifiziert werden. Notwendig ist ein Netz, das die Region erschließt und mit den Städten Tübingen und Reutlingen verbindet.
Zu Tübingen selber – das ist jetzt vielleicht eine persönliche Geschichte: Es waren ja Tübinger Grüne, besonders Gerd Hickmann, aber auch andere Parteien, die den Kreistag und die Region davon überzeugt haben, dass man diese Regional-Stadtbahn braucht. Die Tübinger selber werden ja die größten Nutznießer des Projektes sein, weil hier die größte Verkehrsverlagerung auf der Schiene stattfinden wird. Die Innenstadtstrecke wird die am häufigsten genutzte Strecke sein, sie erschließt die Universität, die Kliniken, den neuen Technologiepark und schließlich sogar Waldhäuser Ost, das ja immer weit abgehängt war. Die anderen Kommunen hat man zum Teil lange überreden müssen, damit sie mitmachen, in Reutlingen, in Hechingen und im Zollernalb-Kreis. Selbst Rottenburg war nicht immer an der Speerspitze der Entwicklung. Dass durch den Bürgerentscheid rauskommen könnte, dass das von Tübingen initiierte Projekt am Ende an Tübingen vorbei fährt, das wäre schon ein Treppenwitz der Geschichte. Ich glaube ja, dass es nicht so weit kommt, sondern ich hoffe, dass am Ende alle einsehen, dass Tübingen den größten Nutzen hat und einen vergleichsweise geringen Finanzierungsanteil. Da können sie froh sein, dass der Landkreis so großzügig mitmacht, weil er halt auch einen Nutzen für Pendlerinnen und Pendler sieht.
Sind Busse keine Alternative zur Innenstadtstrecke?
Die Krux von Tübingen ist ja, dass der ÖPNV auf der Straße an der Leistungsgrenze ist und sich die Busse schon selbst im Weg stehen, weil sie eine begrenzte Kapazität haben. Die Busse stehen wie die Autos im Stau, weil sie keine eigene Trasse haben. Von daher ist die Stadtbahn ein Quantensprung im ÖPNV in der Region. Und ich weiß ja, dass in Tübingen viele ambitionierte Klimaschützer sind: Wir brauchen das dringend, um zu einer klimafreundlichen Mobilität zu kommen. 2040, 2045 müssen wir ja klimaneutral sein. Da sind wir schon spät dran. Da müssen wir richtig schnell sein, damit man das noch schafft.
Ergibt die Regional-Stadtbahn auch ohne die Innenstadtstrecke einen Sinn?
Ich glaube, dass die anderen sich ins Fäustchen lachen, wenn die Tübinger sagen: Ach ne, wir wollen das nicht, da kann ich ja nicht mehr so gut Radfahren, vielleicht komm ich dann aus Versehen mal in die Schiene rein, dann stürz ich, ne, das will ich nicht, außerdem ist es bei uns so eng, und eigentlich brauch ich das nicht, ich komm ja auch mit dem Bus klar. Ich habe die Debatte sehr genau verfolgt. Das erschreckt einen zum Teil, was man da hört. Aber die Region wird einen Riesennutzen haben. Tübingen dann halt nicht. Dann fährt die Stadtbahn ein Stück weit an Tübingen vorbei. Also zum Bahnhof und dann ab nach Reutlingen oder Balingen oder nach Rottenburg. Das könnte auch das Gewicht innerhalb der Region durchaus verschieben. Wir können ja durch Erfahrung sehen, dass überall dort, wo Stadtbahnen oder S-Bahnen in Betrieb sind – das ist eher ein Negativ-Effekt –, die Bau- und Immobilienpreise in der Region hochgehen. Das spiegelt natürlich wider, dass es sich lohnt, dort wohnen zu bleiben, weil man schnell wegkommt oder schnell hinkommt. Wenn die Linie am Bahnhof gebrochen wird und man umsteigen muss wie eh und je in Busse, dann ist das nicht zukunftsfähig. Ich kenne ja auch zum Teil Gegner, die ich auch schätze, das sind ja auch keine Dummköpfe. Aber mich wundert, dass die nicht sehen, dass das Bussystem an der Leistungsgrenze ist. Wer mehr Klimaschutz will und weniger Staus, der muss auf ein leistungsfähiges System umsteigen.
Sie sagten, Sie verfolgen die Debatte, die immer schärfer wird. Wie finden Sie die denn?
Ich hoffe ja, dass ich mit diesem Interview einen Beitrag dazu leisten kann. Es gibt wirklich viele Argumente. Ich will auch nicht bestreiten, dass die, die Kritik an der Regional-Stadtbahn haben oder sie ablehnen, Argumente haben. Natürlich ist die Stadtbahn teuer als Investition. Und natürlich ist es auf der Brücke und in der Mühlstraße eng. Wenn man neu bauen würde, würde man es anders machen. Aber so ist es halt mal in Tübingen. Und natürlich ist es mir als Radfahrer lieber, wenn ich keine Schienen habe. Aber das hält sich alles in Grenzen. Es sind ja nur ein paar hundert Meter, wo man mit seinem Fahrrad in die Schienen geraten kann. Aber man hat ja trotzdem einen Radweg. Und es wäre schöner, wenn die Mühlstraße breiter wäre. Die Stuttgarter Oper steht ja unter Denkmalschutz. Trotzdem wird eine Wand um einen oder zwei Meter versetzt, weil man den Platz in der Oper braucht. In Tübingen gibt es in der Mühlstraße eine Mauer, die steht unter Denkmalschutz. Wie lange die noch hält, weiß ich nicht. Aber wenn man die um einen oder zwei Meter versetzen und als historisch gleichwertig neu bauen würde, dann hätte man mehr Platz. Das könnte die Sache dort entspannen. Ich will nur sagen: Die Einwände der Gegner muss man ernst nehmen, und wenn man das macht, muss man schauen, wo man etwas verbessern kann. Damit man die Nachteile, die es halt auch gibt – die will ich gar nicht wegreden –, beseitigt oder verkleinert. Man kann ganz rational sagen: Eine Stadtbahn ist für eine klimaschutz-orientierte Verkehrspolitik notwendig. Wer sagt, er sei zufrieden mit der Situation und es genüge, das Bussystem zu verbessern, wer so argumentiert, der braucht keine Stadtbahn. Und wer nicht mehr arbeitet, sondern in Rente ist und mehr Zeit hat, zufrieden in der Stadt lebt, wie es ihm gefällt, für den ist es auch kein Muss. Aber für die Pendler aus dem Steinlachtal, aus dem Neckartal, für die Beschäftigten und Studierenden der Uni sowie für Besucher der Kliniken ist es ein deutlich besseres Angebot.
Ein großes Argument ist ja die Umsteigefreiheit. Warum ist die so wichtig?
Man weiß aus zahlreichen Untersuchungen, dass gebrochene Linien und Systemwechsel immer ein Problem sind. Wenn ich zum Beispiel in Hechingen einsteige zur Fahrt in die Berufsgenossenschaftliche Klinik, dann kann ich entspannt mein Buch aufschlagen und lesen bis ich am Ziel aussteige. Wenn ich aber am Bahnhof umsteigen muss, dann habe ich vielleicht 15 Minuten zum Lesen, dann muss ich rausspringen und den passenden Bus und einen Sitzplatz suchen. Dort ist ist es dann zum Lesen viel zu wacklig. Das ist ein doppelter Qualitätsbruch: Umsteigen und weniger Sitzkomfort.
Wie sieht das eigentlich mit den Fahrpreisen aus? Boris Palmer möchte den kostenlosen Bus. Ist die Stadtbahn auf der Innenstadtstrecke dann auch umsonst? Und wer zahlt das?
Das müssen die Stadt Tübingen und der Landkreis klären. Das Land ist zuständig für den Verkehr, der auf den Eisenbahnlinien stattfindet. Für Stadtbahn und Bus sind Stadt und Landkreis zuständig. Wenn die meinen, das wäre gut, dann sollen sie das tun. Ich bin nicht für den Nulltarif, sondern für ein gutes, komfortables ÖPNV-Angebot und das kann es nicht umsonst geben. Nichts in der Welt gibt es umsonst. Irgendjemand muss es bezahlen. Ich bin für angemessene Ticketpreise. Sie sollen ausstrahlen, dass es preiswert ist, also dass es seinen Preis wert ist. Es darf nicht überteuert sein, es darf nicht billig sein. Aber hohe Qualität kostet eben auch was. Wir haben in verschiedenen Städten modellhaft ausrechnen lassen, was eine Mobilitätsabgabe oder ein Mobilitätspass bringen würde. Tübingen ist dabei mit dem kostenlosen Tarif gerechnet worden. Das kriegt man schon hin, aber man verbraucht dann alle Einnahmen, um den ÖPNV kostenlos zu machen. Wenn ich will, dass der ÖPNV insgesamt besser und leistungsfähiger wird, kann man das nicht auch noch umsonst machen.
Zu einem anderen Thema: Sie haben in einem TAGBLATT-Interview mal gesagt, sie wollten Tickets einführen, die für alle Verkehrsverbünde im Land gelten. Tut sich da etwas?
Man wird in Zusammenhang mit der Regional-Stadtbahn nochmal neu anschauen müssen, ob das alles klug ist, wie es heute ist. Als Land haben wir ja gehandelt. Die Verbünde kann ich nicht abschaffen, denn es sind kommunale Gründungen und können auch nur von Kommunen aufgelöst oder zusammengeführt werden. Wir unterstützen seit zehn Jahren den Zusammenschluss und Kooperationen mit Geld. Das wird auch genutzt.
Für verbundüberschreitende Tickets haben wir ja den BW-Tarif, der sehr günstig ist. Von Tübingen nach Stuttgart und zurück ist sehr günstig, vor allem mit Bahncard. Ich glaube, da haben wir gut vorgelegt. Und was da intern an Waben und sonstigem Zeugs ist, das muss dann der jeweilige Verbund lösen. Ich persönlich bin ein Gegner von Waben, Zonen und Automaten. Ich finde, das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir rollen gerade von Stuttgart aus über das ganze Land ein elektronisches Ticketing-System aus: „Check in, Check out“. Wenn Sie in Bus oder Bahn einsteigen, Check in, wenn Sie aussteigen, Check out. Dann wird das aufsummiert und Sie bekommen am Ende den besten Preis berechnet. Das kann man auch übers Jahr machen, dann gibt es eine Abrechnung. Zukünftig soll es sogar eine vollautomatische „Be in, be out“-Lösung mit Smartphones geben.
Mögliche Frage: Braucht es eine teure Regionalstadtbahn oder könnte nicht ein verbessertes Bussystem dasselbe leisten?
Ich glaube, dass die Regionalstadtbahn eine absolute Aufwertung der Region ist. Wenn ich so ins Land schaue, gehört Reutlingen/Tübingen zu den boomenden Regionen der letzten 20 Jahre. Tübingen war mal eine arme Stadt, hatte keine Einnahmen. Jetzt hat es mit dem Technologiepark zukunftsfähige und gute Arbeitsplätze und gute Steuerzahler, dann der Gewerbepark zwischen Reutlingen und Tübingen. Zu dem, was die Wirtschaftskraft und die Arbeitsplätze inzwischen geworden sind – es ist halt nicht mehr nur eine Universitätsstadt – da passt das Verkehrssystem nicht mehr. Das ist für mich der Hauptgrund, weshalb ich glaube, dass diese Region ein leistungsfähiges, schienengebundenes System plus weiterhin leistungsfähige Busverkehre braucht. Vor 30 Jahren hat man eher mit Verkehr argumentiert. Heute muss man sagen, man muss mit Blick auf den Klimaschutz dringend handeln.
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