Ein Debattenbeitrag zum Begriff „Nachhaltigkeit“ und zur „EU-Taxonomie“
Das Leitbild der Nachhaltigkeit wurde von der Brundtland-Kommision 1987 in ihrem Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ vorgestellt. Damit schuf die 1983 gegründete UN Kommission ‚Umwelt und Entwicklung‘ eine neue konzeptionelle Grundlage für eine andere globale Entwicklung von Wirtschaft und für Entwicklungszusammenarbeit. Der Wohlstand der heutigen Generationen sollte nicht länger zulasten zukünftiger Generationen gehen durch übermäßigen, nicht nachhaltigen Energie- und Ressourcenverbrauch. Und auch nicht durch Ausbeutung von Menschen durch Menschen. Dieser Denkanstoß hat in den folgenden Jahrzehnten viele Debatten über die Zukunft in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und in den Religionen (Papst Franziskus: Enzyklika ‚Laudato Si‘) ausgelöst. Der Begriff der Nachhaltigkeit, in Deutschland gerne auf den älteren waldwirtschaftlichen Aspekt der Nachhaltigkeit reduziert, wurde vielfach weiterentwickelt und auch wissenschaftlich präzisiert. Die UN formulierte 17 Nachhaltigkeitsziele fürs 21.Jahrhundert. Der neue Nachhaltigkeitsbegriff verband ökologische Fragen mit einem neuen, erweiterten Gerechtigkeitsverständnis, das globale, soziale Gerechtigkeit und Gerechtigkeit zwischen den Generationen umfasste. Die Entwicklungschancen zukünftiger Generationen sollten unbedingt gewahrt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem epochalen Urteil von 2020 die deutsche Politik verpflichtet, die Freiheitschancen zukünftiger Generationen nicht durch unterlassene Klimaschutzmaßnahmen zu beschränken. Die EU hat seit vielen Jahren ihre Initiativen, Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse zunehmend konsequent am Leitbild der Nachhaltigkeit ausgerichtet. Große Unternehmen, Behörden und Institutionen geben deshalb inzwischen regelmäßig Nachhaltigkeitsberichte ab. In Deutschland müssen Bundesgesetze einen Nachhaltigkeitscheck durchlaufen. Es gibt verschiedene Nachhaltigkeitszertifikate, die den missbräuchlichen Gebrauch der Nachhaltigkeitsetikette einschränken sollen. Tatsächlich werben inzwischen viele Unternehmen und für ihre Produkte mit einem Bekenntnis zu Nachhaltigkeit. Manchmal liegt echte Nachhaltigkeit und Greenwashing mit der Etikette nahe beieinander.
Deshalb gilt es darauf achten, dass nicht alles als nachhaltig bezeichnet wird, was irgendwie dauerhaft und irgendwie umweltfreundlich ist. Insofern ist der Anspruch der EU-Kommision mit der ‚Taxonomie’ eine klare Orientierung zu geben für nachhaltige Investitionen sehr sinnvoll. Im Sinne des UN-Nachhaltigkeitsbegriffs sollen Investitionen z.B. in Infrastruktur danach beurteilt werden, ob sie die Chancen zukünftiger Generationen mehren oder mindern, die Umwelt und das Klima belasten oder reduzieren. Nicht zuletzt sollte die soziale Dimension der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden. Nachhaltigkeit bedeutet einen Paradigmenwechsel in Politik und Wirtschaft, ein Abschied von wachstums- und gewinngetriebenen und zukunftsvergessenem Wirtschaften. Nicht länger sollen Wachstum und Gewinn die primäre oder ausschließliche Orientierung des Handelns sein, sondern die Verantwortung des Handelns auch für zukünftige Generationen.
Kann Atomenergie und Gas nachhaltig sein?
Atomenergie spart zwar im Vergleich zum Kohlestrom CO2-Treibhausgase, hinterlässt aber gewaltige Altlasten, gefährlichen, eine Million Jahre schädlichen Atommüll, der länger strahlt als die bisherige Menschheitsgeschichte überhaupt gedauert hat. Was für eine menschliche Hybris. Gemessen an dieser zeitlichen Perspektive ist selbst die Römisch-katholische Kirche mit ihrer zweitausendjährigen Geschichte ein Kurzzeitphänomen. Nachhaltig im Sinne von dauerhaft ist bei der Atomwirtschaft nur die ökologische und finanzielle Belastung zahlloser zukünftiger Generationen. Dass Frankreich und viele andere Länder seit langem auf Atomenergie-basierten Klimaschutz setzen, ist so offenkundig wie falsch. Und selbstverständlich kann man nicht von heute auf morgen aussteigen, vor allem dann nicht, wenn man sich so abhängig von der Atomenergiewirtschaft gemacht hat. Auch Deutschland hat mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, um auszusteigen. Und weil Deutschland auch aus der Kohleverstromung aussteigen will, kann es im Übergang einige Jahre nicht auf Gas verzichten, weil man zulange auf die fossilen Energien gesetzt hat. Auch wenn Gas bei der Energiebereitstellung relativ gesehen etwas weniger Treibhausgase als Kohle und Öl verursacht, so stellen auch diese Treibhausgase einen langfristigen, teuren Klimaschaden dar.
Die Energiepolitik der EU ist seit ihrer Gründung gespalten. Einerseits war sie von Anfang an ein Versuch, eine neue Energieunion („Montanunion“, „Euratom“) auf Kohle- und Atombasis zu schaffen. Andererseits galt es die Autonomie der Energiepolitik der Mitgliedsstaaten zu wahren. So setzten diese auf sehr unterschiedliche Energiequellen und Technologien. Alle Mitglieder nutzten Kohle, Öl und Gas in sehr unterschiedlicher Mischung. Nicht alle setzten auf Atomstrom. Einige forcierten Atomstrom im Sinne von Euratom als „Zukunftsenergie“, andere stiegen aus dieser „nicht zukunftsfähigen“ Energie aus. Dass die EU-Kommission dies bei ihrer Klimaschutz- und Energiepolitik berücksichtigen muss, ist logisch, wenn auch nicht nachhaltig. Dass Deutschland den anderen Mitgliedsstaaten den deutschen Energieweg aufzwingen könnte, ist angesichts der Unterschiedlichkeit der nationalen Energieversorgung und Kompetenzverteilung erkennbar unmöglich. Hier muss deutsche wie die europäische Politik pragmatisch handeln. Änderungen im Sinne einer klimaverträglichen und nachhaltigen Energieversorgung für die EU-Mitgliedsstaaten können nur über neue Mehrheiten und Einsichten erreicht werden.
Im Übergang, zeitlich begrenzt, das Falsche zu tun oder zu tolerieren kann, nötig, pragmatisch oder bequem sein. Deutschland kann auch andere EU-Staaten nur begrenzt beeinflussen. Etwas anderes ist es allerdings, wenn Gas und Atomenergie als „nachhaltige Investition“ und als „nachhaltige Anlage“ gewissermaßen empfohlen und von den schädlichen, nicht nachhaltigen Wirkungen freigesprochen werden.
Wenn die EU das ermöglicht, macht sie sich zur Fakenews-Agentur und beschädigt den Wert und die Bedeutung eines epochalen Leitbegriffs, gerade auch der EU. Wenn sie diesen falschen Gebrauch des Begriffes durchsetzen sollte, dann braucht es zwingend den sprachlichen Zusatz: „schwarze“ oder „dreckige“ Nachhaltigkeit. Die neue Taxonomie heißt dann: „Grüne Nachhaltigkeit“!
Artikel kommentieren